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Ukraine: In der Kantine von Tschernobyl

TschernobylDer alljährliche Kurztrip mit meinem Kumpel Matze führte uns nach Kiew und in diesem Rahmen haben wir uns vorab nach Sehenswürdigkeiten umgeschaut. Dabei bot sich ein Tagesausflug nach Tschernobyl an – nicht billig, immerhin 80 Euro wurden vom Reiseveranstalter ausgerufen – aber nach kurzer Bedenkzeit und Recherche, wie hoch denn die Strahlenbelastung bei solch einem Besuch sei, haben wir dieses – zumindest für uns – ungewohnte Ziel gebucht. Um es vorwegzunehmen, die Strahlenbelastung für einen Tagesausflug wird mit fünf Flugstunden gleichgesetzt, eine Bewertung vom Reiseveranstalter die ein Freund von mir – promovierter Physiker – für denkbar hielt. Damit war die Sicherheitsfrage für uns positiv beantwortet, auch wenn für mich ein mulmiges Gefühl verblieb. Denn atomare Strahlung war für mich als Laie eine sehr abstrakte Gefährdung, die ich nicht bewerten konnte. Die hier gewählte Vergangenheitsform legt nahe, dass sich diese Bewertung verändert hat. Wie? Das legen die nachfolgend fünf skizzierten Eindrücke sowie das anschließende Fazit dar:

Morgens um 8 Uhr hieß es beim Reiseveranstalter vorstellig zu werden und insgesamt wurden knapp 20 Touristen aus aller Herren Länder in einen langen, modernen sowie klimatisierten Mercedes Sprinter geladen und in zwei Stunden nach Tschernobyl kutschiert. Beim Check-In in Kiew hatte man noch die Möglichkeit einen weißen Overall und Schuhstülpen zu erwerben sowie einen Geigerzähler zu mieten. Wir haben nichts davon mitgenommen. Bezüglich der Bekleidung wurde darauf hingewiesen, dass lange Kleidung zu tragen sei, denn darauf wird durchweg im Sperrgebiet geachtet. Mehr ist nicht nötig. Die zweistündige Fahrt war unspektakulär, wir haben fehlenden Schlaf nachgeholt und die Landschaft studiert. Die Ukraine zeigte sich uns außerhalb von Kiew als dünnbesiedelt sowie land- und forstwirtschaftlich geprägt.

Angekommen am Sperrgebiet hieß es Reisepass vorzeigen und unsere Reiseleiterin bestieg den Sprinter. Dieser Checkpoint war der Eingang zur 30 km Sperrzone, die das havarierte AKW abschirmt und die man ohne Autorisierung nicht betreten kann. Jede und jeder, die oder der hier rein oder raus will, wird kontrolliert und muss eine Zugangsberechtigung haben. Als Tourist kommt man ohne Reiseveranstalter nicht hinein, was schon alleine sicherheitstechnisch betrachtet selbstredend ist. Hier zeigte sich, dass wir keineswegs die einzigen Mutigen waren, denn es standen dort knapp 10 weitere Sprinter und warteten auf Einlass. Im Laufe des Tages erfuhren wir, dass bis zu 2000 Leute täglich einen Tagesausflug absolvieren. Wir haben es mal hochgerechnet und 500 Leute pro Tag im Jahr angenommen (im Winter wird hier deutlich weniger los sein), dann würden 180.000 Menschen pro Jahr Tschernobyl besuchen, eine betriebs- und volkswirtschaftlich betrachtet beachtliche Menge oder anders gesagt, sicherlich ein gutes Geschäft.

So drängte sich der erste Eindruck auf: Aus der Katastrophe wird inzwischen Kapital geschlagen. Vor dem Hintergrund der Toten sicherlich fraglich, vor dem Hintergrund der Lebenden, die in einem wirtschaftlich und politisch derzeit schwierigen Land um bezahlte Jobs ringen, eine für mich nachvollziehbare Vorgehensweise.

Nach dem Checkpoint legte unsere Reiseleiterin mit einer ausführlichen Sicherheitsbelehrung los und erläuterte, was wir alles nicht machen dürfen: Uns von der Gruppe entfernen, den Weg verlassen, Gebäude alleine betreten und kurze Kleidung tragen. Im Laufe des Tages erlebten wir, dass sie die Regeln sehr ernst nahm und zwei Gruppenmitglieder ordentlich zusammenfaltete, weil diese aufgrund der Hitze ihre langen Oberteile ausgezogen hatten. Der Grund für lange Kleidung ist dabei recht einfach: Das Problem ist nicht die erhöhte Reststrahlung in der Luft sondern es sind herumfliegende unsichtbare Partikel, die sehr stark strahlen und sich in der Kleidung verfangen. Passiert dies, müssen die Sachen gewaschen werden und können mitunter wieder verwendet werden. Wenn die Partikel aber auf der Haut landen, dann richten sie einen deutlich höheren Schaden am Menschen an und statt der Kleidung muss die Person dekontaminiert werden. Das heißt duschen und mitunter Haare abrasieren sowie Jodtabletten nehmen. In diesem Zusammenhang erklärte unsere Reiseleiterin auch, dass Gefahren ebenfalls von so genannten Hotspots in der Landschaft ausgehen. Ein Hotspot ist ein besonders stark verseuchter Punkt und kann alles sein, eine kleiner Flecken Boden, eine Eisenstange oder ein Gartenzaun. Unterwegs zeigte sie uns solche Hotspots, die nur mit dem Geigerzähler identifiziert werden können und nicht betreten oder berührt werden sollten. Wenn Menschen dekontaminiert werden können, dann können natürlich auch solche Hotspots entfernt werden, was die so genannten Liquidatoren viele Jahre hier vollzogen haben, um dieses Gebiet auf den Hauptwegen wieder begehbar zu machen. Die Hotspots sowie umherfliegende Partikel sind auch der Grund, warum man im Laufe des Tages etliche male durch einen Ganzkörperscanner muss. Dort wird dann geprüft, ob sich strahlende Partikel auf der Kleidung abgesetzt haben. Fahrzeuge, die die Sperrzone verlassen, werden darüber hinaus besonders an den Reifen und in den Radkästen geprüft. Denn alles was aus dem Sperrgebiet raus getragen wird würde den Rest des Landes punktuell verseuchen. Dies ist natürlich nicht gewünscht, weil es mit einer hohen Gefährdung der Zivilbevölkerung einhergeht. Deswegen also die vielen Kontrollen.

Zweiter Eindruck der sich über den Tag auch durch andere Erklärungen und Erlebnisse verfestigte: Man kann die Kontaminierung messen und ihr gezielt begegnen oder anders ausgedrückt, man kann mit ihr umgehen.

Unser erster Halt im Sperrgebiet galt dem Ort Tschernobyl und hierfür muss erklärt werden, dass dieser 15 km von dem havarierten sowie den drei weiteren Reaktoren entfernt ist. D.h. die Reaktoren stehen nicht in Tschernobyl sondern in Prypjat, einem Ort, der extra für die Reaktoren erbaut wurde. Tschernobyl ist die regionale Verwaltungsstadt gewesen, Prypjat der Standort der Reaktoren. Tschernobyl wird inzwischen wieder von 700 Menschen bewohnt (ehemals 14.000), hier leben etliche Reiseleiter neben den Mitarbeitern, die heute für den Rückbau der Reaktoren verantwortlich sind, denn der letzte Reaktor wurde 2001 abgeschaltet. Die Strahlenbelastung haben wir vom Geigerzähler abgelesen, sie war ungefähr doppelt so hoch wie in Kiew und damit überschaubar. Es bleibt natürlich das beschriebene Problem mit den Hotspots und somit darf man sich nur auf gereinigtem Territorium bewegen. Kinder dürfen hier nicht leben, für die ist einerseits die Gefahr an Leukämie zu erkranken sehr hoch und andererseits beim Spielen durch Hotspots kontaminiert zu werden. Viel zu sehen gab es nicht, außer der Statue „Memorial Star Wormwood“ für die Opfer der Havarie, einem Supermarkt und ein paar bewohnten Häusern. Nach einem kurzen Stopp ging es weiter in Richtung der Reaktoren in einen verlassenen Ort, der militärischen Zwecken diente und eine riesige Antennenanlage für die Steuerung von russischen Interkontinentalraketen beherbergte – inklusive natürlich der Wohnmöglichkeiten für die dort beschäftigten Mitarbeiter und ihrer Familien. Hier haben wir unseren ersten Ausflug gemacht und diesen verlassenen Ort abgelaufen. Dabei haben wir einen Einblick dahingehend bekommen, wie die Natur sich diesen Lebensraum wieder zurück holt. Denn man läuft durch einen Wald, wobei der asphaltierte Pfad davon zeugt, dass hier mal eine Straße gewesen ist. Links und rechts schimmern Gebäude durch das Grün, als wenn man sich in sehr dichtem Nebel bewegen würde. Geht man näher an die Gebäude ran wird sichtbar, dass es Wohngebäude, Schulen oder Nutzgebäude sind und diese bis zu fünf Stockwerke hoch sind. Spätestens dann erschreckt man sich, weil einem klar wird: Hier hat sich die Natur eine ganze Kleinstadt zurück geholt und sie versinkt in dem Dickicht von Rasen, Moos, Sträuchern und Bäumen. In einige Gebäude sind wir mit unserer Reiseleiterin reingegangen und haben uns angeschaut, wie diese jetzt aussehen. In einem Schulgebäude standen noch die Tische in Reih und Glied. Auch waren wir in der Turnhalle und konnten im Chemielabor die aufgereihten Reagenzgläser bestaunen. Nach 30zig Jahren war natürlich alles in einem erbärmlichen Zustand, die Farbe z.B. rollte sich an den Wänden und fiel herunter. Denkt man 30 Jahre weiter, dann wird der Wald sich in den Gebäuden eingenistet haben und diese von innen zersetzen. Ein Nachbar von mir erzählte diesbezüglich, dass er eine BBC-Dokumentation gesehen hat, die darlegte, dass nach 200 Jahren nichts mehr von den Gebäuden zu sehen ist. Das kann ich mir jetzt gut vorstellen. Unsere Reiseleiterin legte darüber hinaus dar, dass die Bäume infolge der Strahlung 20 % schneller wachsen und sich auch die Tierwelt sehr gut von der Katastrophe erholt hat: Es gibt (Wasch-)Bären, Füchse und sogar Wildpferde, die sich hier in der Wäldern sehr wohl fühlen.

Dritter Eindruck: Die Natur kommt ohne uns sehr gut zurecht und holt sich den Lebensraum wieder, den wir ihr durch die Zivilisation abgerungen haben. Sie hat keine Geigerzähler und probiert es aus: Leben, was sich halten kann, bleibt, was nicht, vergeht. Anpassung pur.

Weiter ging es nach Prypjat und dort zu den Reaktoren. Die Geigerzähler schlugen permanent Alarm, weil die Strahlenbelastung ein vielfaches über dem Schwellwert lag, der als natürliche und unschädliche Strahlung bestimmt wurde. Man ist hier angehalten sich nicht lange draußen aufzuhalten, sah aber immer wieder Menschen, die dort arbeiteten und sich ganz natürlich an der frischen Luft bewegten. Unsere Reiseleiterin wies darauf hin, dass alle, die hier im Sperrgebiet arbeiten, monatlich einen Gesundheitscheck über sich ergehen lassen müssen. Die vier Reaktoren stehen nebeneinander, darüber hinaus zwei weitere im Bau befindliche Reaktoren, die nach der Havarie nicht mehr fertiggestellt wurden. Über dem havarierten Reaktor ist inzwischen eine – ich sag mal schicke – Edelstahlhülle geschoben worden, die die nächsten 150 Jahre den Reaktorkern abdecken und damit den Strahlenausstoß in Grenzen halten soll. Es war recht schönes Wetter, es fühlte sich alles an wie ein normaler Sommertag und nur die piependen Geigerzähler erinnerten einen daran, dass dieser Lebensraum nicht ohne Tücken ist. Da es inzwischen Mittag war gab es eine Pause in der Kantine von Prypjat, die dort von den Mitarbeitern und von uns Touristen besucht wurde. Das Gebäude wirkte neu, wenn auch in der Architektur sozialistisch. Beim Eingang musste man den Strahlenscanner durchschreiten, dann konnte man sich ein Tablett nehmen, ein Essen aussuchen und zur Speisung schreiten. Aus dem Fenster geschaut in Sichtweite stand der havarierte Reaktor mit seiner Stahlhülle, der ungefähr einen Kilometer von uns entfernt war. Das Essen hat uns gut geschmeckt, die Stimmung war ein wenig skurril: Aus dem Fenster sichtbar der Reaktor, vor uns unser Mittagessen.

Vierter Eindruck: Das Wissen, dass man Strahlung nicht riechen, schmecken oder spüren kann wird mit dem trughaften Gefühl eines schönen und warmen Sommertages bzw. eines Kantinenganges konfrontiert. Strahlung ist zwar eine reale Bedrohung, sie bleibt aber, wie soll ich sagen, abstrakt. Sie lässt sich nur mit Messgeräten und dem Verstand ergreifen, nicht aber mit den eigenen Sinnesorganen.

Nach dem Mittagessen ging es als letzte Station in das Wohngebiet von Prypjat, wo knapp 50.000 Menschen im Abstand von ca. zwei Kilometern von den Reaktoren gelebt haben. Ein ehemals sozialistischer Vorzeigeort mit fünfstöckigen Hochhäusern, Hotel, Supermarkt, Möbelcenter, Freizeitanlage inklusive Riesenrad, Autoscooter, Kino, Fußballplatz und Promenade für Ausflugsdampfer. Es zeigte sich das gleiche Bild wie schon in dem kleinen militärischen Ort, nämlich, dass die Natur diesen Lebensraum für sich vereinnahmt. Durch die großen Betonflächen waren die Zweckgebäude noch nicht im Wald versunken, so dass die ehemaligen Begebenheiten gut nachvollziehbar waren. Unsere Reiseleiterin hat an vielen Stellen halt gemacht und passende Aufnahmen aus der Zeit vor der Evakuierung gezeigt. Diese Gegensätze illustrierten den Niedergang des Wohngebiets sehr gut und natürlich schaffte so ein verlassenes Riesenrad nochmal eine intensivere Endzeitstimmung, als ein im Wald versunkenes Wohngebäude. Ich gebe zu, mir persönlich war das dann ein wenig zu dick aufgetragen, weil immer wieder über die verlassenen Gebäude das Gefühl der Endzeitstimmung bedient wurde. Mehr hingegen hätten mich weitere Ausführungen zur Havarie und seine Folgen interessiert.

Fünfter Eindruck: Es bleibt ein touristisches Ereignis, was gewisser Highlights bedarf. Das verlassene Riesenrad auf den Webseiten der Reiseveranstalter ist ein Werbeversprechen, was gut eingelöst wird. Wer – wie ich – weiteres Interesse am Thema hat, muss sich selbst drum kümmern. Ich habe mir dann den umfangreichen und gut recherchierten Wikipedia-Artikel zur „Nuklearkatastrophe von Tschernobyl“ durchgelesen. Er bestätigte viele Ausführungen unser Reiseleiterin, zeigte jedoch detaillierter den Werdegang der Havarie mit seinen Folgen auf.

Wie endet nun dieser Reisebeitrag? Muss er – also ich als Autor – Stellung zur zivilen Nutzung von Nuklearkraft beziehen? Was ist über die fünf dargelegten Eindrücke hinaus das Fazit?

Die Eindrücke waren mitunter ambivalent: Auf der einen Seite zeigen der florierende Tourismus, der Besuch der Kantine aber auch die sich ausweitende Natur, dass es Leben nach einer atomaren Kontaminierung gibt. Auf der anderen Seite haben 600.000 Menschen ihre Heimat verlassen müssen, ist das Land für 10.000 Jahre nicht mehr bewohnbar und haben viele tausend Menschen ihr Leben verloren, losgelöst von dem immensen volkswirtschaftlichen Schaden, der für die Ukraine entstanden ist. Gerade zu den Folgen und dessen mitunter auch umstrittenen Bewertungen sei hier nochmal auf den Wikipedia-Artikel verwiesen. Ich persönlich war spätestens seit der Havarie in Fukushima (Japan) gegen die zivile Nutzung von Atomkraft in so dicht besiedelten Gegenden wie Deutschland und bin deswegen froh, dass die Reaktoren bei uns abgeschaltet werden. Der Besuch von Tschernobyl hat mich in dieser Position nochmal sehr bekräftigt, weil er einem die Tragweite einer Havarie in vielen Facetten verständlich näher bringt. Mein Fazit: Eine Reise nach Tschernobyl ist sehr empfehlenswert, macht nachdenklich und hat einen hohen Bildungsgehalt.

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